Lehren und Lernen
Sommerpause – verlängert
Eigentlich sollte es hier schon lange weitergehen. Aber mit dem Ende der Sommerpause hat der Schreiber dieser Zeilen – etwas unfreiwillig – einen direkten Weg vom Fahrradsattel zum Asphalt versucht. Mit schmerzhaften Folgen, die auskuriert werden wollen. Bitte also noch um etwas Geduld …
Bildquelle: Elena Obilets (Unsplash)
Review: Die Kraft der Learning Circles: Umsetzung, Wirkung und Einsatzmöglichkeiten
Der Umfang des Buches, das vorweg, mag irritieren: 392 Seiten über Learning Circles, über ein Konzept von Peer Learning, das auf dem selbstorganisierten Lernen mit- und voneinander aufbaut? Braucht es wirklich so viele Informationen, um mit dem Lernen ohne Trainer:innen und Referent:innen loszulegen? Die beiden Autorinnen, Nele Graf und Ursula Liebhart, sind schon viele Jahre auf vielen Feldern und in unterschiedlichen Netzwerken der Personalentwicklung aktiv und wollen mit dieser Studie nichts dem Zufall überlassen. Leser:innen sollen in die Lage versetzt werden, Learning Circles nicht nur zu verstehen, sondern auch erfolgreich umzusetzen.
Zum Inhalt des BuchesDas Buch ist in sechs Kapitel aufgebaut. Der Einstieg des ersten Kapitels („Learning Circles – zukunftsweisendes Lernen für alle“) ist mir gleich sehr sympathisch: „Sieht man sich die derzeitigen Diskussionen zu Lernen in organisationalen Kontexten an, so scheint es genau zwei Antworten auf alles zu geben: Künstliche Intelligenz und kollaboratives Lernen.“ (S. 19)
Was folgt, ist eine Standortbestimmung von Learning Circles: Wir erfahren,
- was Learning Circles sind: freiwillige Lerngruppen mit Teilnehmenden, die individuelle oder gemeinsame Ziele erreichen wollen, die sich mit ganz unterschiedlichen Themen beschäftigen, aber in einem zeitlich befristeten Rahmen, zuweilen angeleitet durch einen Leitfaden und/ oder eine Moderation;
- wie Learning Circles beim Erwerb von den so wichtigen Zukunftskompetenzen/ Future Skills unterstützen können;
- wie sie am besten als Formen des agilen Lernens verstanden und umgesetzt werden;
- und wie sie untrennbar mit der Entwicklung einer lernförderlichen Unternehmenskultur verbunden sind bzw. auf diese einzahlen.
In diesem einleitenden Kapitel wird zugleich ein zentrale Botschaft des Buches betont: Das Konzept der Learning Circles lebt von seinen Anpassungen und Ausgestaltungen (und so erklärt sich auch der Umfang des Buches!). Man muss das Konzept, will man es erfolgreich einführen, an den eigenen Kontext, die eigene Zielgruppe und die eigene Lernkultur anpassen. Dafür stehen die 16 Parameter (!) mit unterschiedlichen Ausprägungsvarianten, die in einer zentralen Übersicht vorgestellt werden (S. 33).
Das zweite Kapitel, „Learning Circles in verschiedenen Epochen, Kulturen und Kontexten – ein Überblick“, zählt verschiedene Konzepte und Beispiele von Learning Circles auf – von der Peer-2-Peer University bis zu Learning Circles bei Mircosoft und SAP. Dann werden die heute bekanntesten Modelle vorgestellt: Working Out Loud (WOL), lernOS und LearningOutLoud (LOL). Dabei werden WOL und LOL als „kommerzielle Konzepte“ von lernOS abgegrenzt. LOL, das sei kurz angemerkt, begegnet mir in der Praxis nur selten.
Damit haben die Autorinnen die Voraussetzungen geschaffen, um auf struktureller, prozessualer und normativer Ebene noch einmal die wichtigsten Merkmale von Learning Circles festzuhalten. Kurze Exkurse, beispielsweise zum Action Learning, zum erfahrungsbasierten Lernen und zur psychologischen Sicherheit, ergänzen das Kapitel. Lediglich einen Exkurs zu anderen Methoden des Peer Learnings wie Communities of Practices, Barcamps, cMOOCs und Peer-to-Peer-Sessions habe ich vermisst.
Ich muss an dieser Stelle allerdings auch kurz erwähnen, dass mich das Wort „demokratisch“, das hier und an vielen weiteren Stellen des Buches gebraucht wird, um das Miteinander in Learning Circles zu beschreiben, im Kontext von Unternehmen und Organisationen immer etwas irritiert.
Das dritte Kapitel („Learning Circles gestalten und managen“) bildet das Herzstück des Buches. Es liefert das Rüstzeug, um Learning Circles Schritt für Schritt in die eigene Organisation einzuführen. Grundlage bildet ein Prozessmodell, das aus fünf Kernphasen besteht: „Von der Idee zur Entscheidung“, „Von der Entscheidung zum Design“, „Elemente einer Begleitung“, „Feedback einholen und Evaluation vorbereiten“ und „Zukunft von Learning Circles: Skalierbarkeit der Ergebnisse“.
Es würde den Rahmen dieser Zusammenfassung sprengen, auf jeden Prozessschritt und jedes Kapitel dieses Modells einzugehen. Deshalb nur einige Anmerkungen:
- Die Autorinnen empfehlen Personen, die Learning Circles in ihren Organisationen starten wollen, sie „zunächst einmal als Teilnehmende zu erleben, um die Wirkung selbst zu erfahren und authentische Erzählungen liefern zu können“ (S. 101) Das kann man nur unterstreichen.
- Sehr nützlich ist die Stakeholder-Matrix für Learning Circles (S. 133), um mit geeigneten Maßnahmen Teilnehmende, Führungskräfte, Management, Kolleg:innen, Betriebsrat, IT und Marketing ins Boot zu holen.
- Facilitator:innen können Learning Circles und ihre Mitglieder unterstützen. Wie die Unterstützung aussehen kann, wird mit den Rollen „Support“, „Mediation“, „Lerncoach“ und „Content Curation“ ausgeführt (S. 155ff.).
- Leitfäden spielen, vor allem im Rahmen von WOL und lernOS, eine zentrale Rolle für das Lernen in Learning Circles. Zwei Leitfäden werden in Ausschnitten vorgestellt. Gerade die Frage der Leitfäden, Lernmaterialien und Lerninhalte hätte noch etwas ausführlicher dargestellt werden können. Welche Möglichkeiten und Wege werden abseits von WOL und lernOS heute in der Praxis beschritten?
- Interessant ist der Hinweis, aus den Learning Circles und den Teilnehmenden eine Community of Practice zu entwickeln, um die Effekte von Learning Circles zu verstetigen (S. 252).
Das vierte Kapitel wechselt schließlich die Perspektive: „Mitmachen und mitgestalten: Learning Circles aus Sicht der Teilnehmenden“. Wie finde ich als Lernender den richtigen Circle, wie setze ich meine Ziele, wie bewege ich mich von Woche zu Woche vorwärts bis zu dem Punkt, wo ich schließlich meinen Lernprozess und Lernerfolg reflektiere.
Dieses Kapitel bringt einige neue Punkte ins Spiel (es enthält auch Redundanzen), aber ich habe zwei grundsätzliche Anmerkungen:
- Ich habe kurz überlegt, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, die Zielgruppe des Buches, die Personalentwickler:innen im weitesten Sinne, hier explizit als Lernende anzusprechen, um den Perspektivwechsel des Kapitels nachvollziehbarer zu gestalten.
- Zum anderen wird spätestens an dieser Stelle die Darstellung des Lernprozesses sehr komplex. Die Autorinnen stellen das Lernen in Circles als „Lernsprint“ vor, der sich im Wochenrhythmus zwischen Sprintzielen, Sprintplanung, Action, Inkrements und Retros bewegt. Jetzt bringen die WOL- und lernOS-Leitfäden ja schon eine eigene Lerndramaturgie und -didaktik mit, die nicht zwangsläufig eine weitere Einbettung in Lernsprints benötigt. Hier holen die vielen Ausgestaltungsmöglichkeiten von Learning Circles die Autorinnen ein, und das Format wird am Ende doch aufwändiger dargestellt als es sein muss.
Auf die beiden abschließenden Kapitel fünf („Den Erfolg sichern und sichtbar machen – von Risikomanagement über systematische Evaluierung bis zur Kommunikation“) und sechs („Neueste Entwicklungen zu Lernzirkeln“) will ich nur kurz eingehen. Zuerst geht es um die Herausforderungen, die mit der Einführung von Learning Circles verbunden sind. Viele kreisen um das, was die Autorinnen eine „Krux“ nennen: „Learning Circles bedürfen schon in Grundzügen eines neuen Lernverständnisses, das sich durch die Learning Circles allerdings erst herausbilden soll.“ (S. 321)
Ansonsten ist die Forschungslage zur Evaluation agiler Lernformate einfach noch sehr dünn und herausfordernd (selbstorganisiertes Lernen!). Zu den „neueren Entwicklungen“ rund um Learning Circles zählen die Autorinnen die „künstliche Intelligenz, die auf mehreren Ebenen die Gestaltung von Learning Circles unterstützen kann“ (aber noch nicht als Circle-Teilnehmende!), die „Integration von Learning Circles in größere Lernreisen“ (interessant!), sowie „die Nutzung der Frameworks der Learning Circles für einen sehr offenen und dynamischen Lernprozess ohne Rahmenthemen“ (S. 361).
Das Buch besteht noch aus vielen weiteren Bausteinen, die seinen Nutzen für Praktiker:innen und seinen Anwendungsbezug unterstreichen. Dazu gehören über ein Dutzend Fallstudien und Deep Dives, zum Beispiel von RHOMBERG BAU Wien, Robert Bosch, DATEV und Bayer. Unzählige Vorlagen („Lernhacks“) unterstützen die Umsetzung. An ihnen haben weitere Autor:innen mitgewirkt.
Mein Fazit:
Mit „Die Kraft der Learning Circles“ liegt jetzt ein umfassendes Handbuch zum Thema vor, das alle Fragen und Prozessschritte aufnimmt, die mit dem Format, der Einführung und der Auswertung von Learning Circles verbunden sind. Es steht für mich gleich neben dem Praxishandbuch „Barcamps & Co.“, das Jöran Muuß-Merholz 2019 geschrieben hat.
Und erfahrene Personalentwickler:innen werden wissen, wo sie auf die Lernkompetenzen ihrer Zielgruppen vertrauen und als Facilitators im Hintergrund bleiben können. Für sie gilt die abschließende Einschätzung der Autorinnen nicht zwangsläufig: „Die Einführung von Learning Circle-Initiativen ist für deren Initiator:innen in der Regel wesentlich aufwändiger, als es der selbstgesteuerte und eigenverantwortliche Charakter der Methodik zunächst nahelegt: Learning Circles sind hochgradig erklärungsbedürftig … „ (S. 363)
Sommerpause
Der Weiterbildungsblog geht bis Ende August in die Sommerferien. Ich wünsche allen eine schöne, erholsame Zeit! Bleibt/ Bleiben Sie gesund!
Jochen Robes
Bildquelle: Sapan Patel (Unsplash)
Future Skills Commons – Wir starten!
Der Startschuss gilt einem neuen Vergleichsportal, das NextEducation und die Future Skills Alliance entwickelt haben. Es nennt sich futureskills4u.org. Ulf-Daniel Ehlers (NextEducation) schreibt darüber: „Unser Ziel: Future-Skills-Ansätze, Kompetenzlisten und Studien transparent, navigierbar und für alle zugänglich machen – im Bildungsbereich, in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.“
Wenn ich es richtig sehe, sind es derzeit acht Kompetenzlisten, die man steckbriefartig aufgenommen und eingeordnet hat: Future Skills 2030 (Agentur Q), Kompetenzen für morgen (Bertelsmann Stiftung), ETH Zürich Kompetenzraster, MarSkills (Philipps-Universität Marburg), Future Skills 2021 (Stifterverband/ McKinsey & Company), Future Skills (Pechstein & Schwemmle), Future Skills Concept (SBW Haus des Lernens), Future of Jobs Report 2025 & Global Skills Taxonomy (World Economic Forum).
Zum Portal gehören ein Kompetenznavigator und ein Konfigurator, mit dem man sich seine eigene Future Skills-Liste zusammenstellen kann. Vielleicht liegt es an den Nachrichten, die in diesen Tagen kursieren, aber irgendwie habe ich hier spontan auch einen Chatbot erwartet, mit dem ich in einen persönlichen Dialog über Future Skills treten kann.
Ulf-Daniel Ehlers, LinkedIn, 09. August 2025
#137 Dr. Daniel Stoller-Schai – Selbstorganisiertes Lernen in einer KI-geprägten Welt
Ich habe mir gerade den Podcast angehört, den Yvo Wüest (als Gastgeber) und Daniel Stoller-Schai zusammen aufgenommen haben (37:13 Min.). Aufhänger ist natürlich das Buch, das Daniel Stoller-Schai und Werner Sauter veröffentlicht haben („Selbstorganisiertes Lernen mit generativer KI“). Die Kernthesen des Buches werden hier kurz aufgenommen, diskutiert und um einzelne Tipps ergänzt. Yvo Wüest bietet uns folgende Gliederung an:
„- Warum selbstorganisiertes Lernen mehr ist als ein Buzzword
– Wie der sokratische Dialog mit KI neue Lernräume öffnet
– Den »Dreiklang des Lernens«: Allein, mit KI, mit anderen
– Wie Bildungsprofis Lernprozesse begleiten, ohne sie zu steuern
– Und warum Ethik, Datenschutz und Reflexion in der KI-Nutzung unverzichtbar bleiben“
Beim Stichwort „sokratischer Dialog“, das im Gespräch mehrmals fällt, hätte sich natürlich ein Blick auf den Study Mode von ChatGPT angeboten. Aber die Aufnahme fand wahrscheinlich noch vor Veröffentlichung statt. Und, ja, das Buch von Daniel Stoller-Schai und Werner Sauter liegt auch noch auf meinem Stapel …
Yvo Wüest, Gespräch mit Daniel Stoller-Schai, Education Minds – Didaktische Reduktion und Erwachsenenbildung, 7. August 2025 (via LinkedIn)
So gelingt der Wissenstransfer
Gudrun Porath nimmt in diesem Artikel viele Stichworte auf. Ihr Einstieg: Durch den demografischen Wandel und das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Arbeitsprozess geht Wissen verloren. Vor allem Erfahrungswissen. Das sollte Wissensmanagement auf die Tagesordnung setzen und zu einer strategischen Aufgabe machen. Führungskräfte spielen dabei eine wichtige Rolle. Und Technologien, allen voran die KI, können helfen.
Das funktioniert jedoch in der Praxis mehr schlecht als recht. Meist werden Unternehmen gar nicht oder zu spät aktiv. Von der Einbettung eines kontinuierlichen Erfahrungsaustauschs im Arbeitsalltag ganz zu schweigen. Im Artikel werden diese Beobachtungen durch verschiedene Konzepte und zahlreiche Beispiele gestützt. Und, bitte nicht wundern, ich werde auch zitiert.
Am Ende folgen sechs Empfehlungen für die Praxis, die ich auch mit gutem Gewissen unterschreiben kann:
„1. Priorisieren statt alles erfassen …
2. Implizites Wissen sichtbar machen …
3. Tools sinnvoll einsetzen …
4. Verantwortung klären …
5. Teilhabe ermöglichen …
Wissen zu teilen muss einfach sein – technisch und sozial. Eine offene Lernkultur, niederschwellige Formate und regelmäßiger Austausch schaffen Vertrauen und senken Hemmschwellen.
6. Wirkung reflektieren …“
Gudrun Porath, Haufe.de, 1. August 2025
Bildquelle: Markus Winkler (Unsplash)
The Day MOOCs Truly Died: Coursera’s Preview Mode Kills Free Learning
Ich glaube, in Corporate Learning ist der Begriff „MOOC“ (Massive Open Online Course) heute nur noch einer Handvoll von Expert:innen bekannt. Und wahrscheinlich sind diese Teil der Corporate Learning Community, aber das nur am Rande. Wenn Dhawal Shah, der aufmerksame Chronist der MOOC-Entwicklung, sich erst jetzt von der MOOC-Idee und dem Begriff verabschiedet, dann bezieht er sich auf den jüngsten Schritt von Coursera. Denn Coursera, so Dhawal Shah, war der Anbieter, der bis zuletzt noch einen freien Zugriff auf viele Kursinhalte erlaubte (die Zertifikate und andere Features kosten natürlich auch hier etwas). Jetzt kann man offensichtlich nur noch im Preview Modus auf das erste Modul eines jeweiligen Kurses zugreifen.
Jedenfalls nutzt Dhawal Shah diese Gelegenheit, um die MOOC-Entwicklung seit 2011 noch einmal in wenigen Absätzen zusammenzufassen. Hier ein kleiner Auszug:
„In many ways, yes. Major platforms stopped using the term “MOOC” to describe their courses years ago. The term had been fading, a decline accelerated by 2U’s acquisition of edX and subsequent bankruptcy. FutureLearn’s acquisition by Global University Systems further consolidated the market.
This left Coursera as the last major independent player — the largest platform and the one with the most generous free access policy.
MOOCs never achieved the transformative potential promised during the early hype. The movement lost its way as monetization increasingly took precedence over accessibility. …
With Preview Mode’s implementation, that spirit finally dies. MOOCs, as originally conceived, are now truly dead.“
Dhawal Shah, The Report by Class Central, 28. Juli 2025
Bildquelle: Dhawal Shah
